27.10.08

Rückblick und Analyse des 11.10.08

Kein Desaster, aber auch alles andere als ein positiver Tag – am 11.10. sind ca. 350 Nazis durch Wetzlar marschiert. Geschützt wurde der Aufmarsch von etwa 500 Polizisten; bürgerlicher Protest war eher marginal vorhanden und die durchaus zahlreichen anwesenden Antifaschist_innen blieben wohl weit hinter dem Möglichen zurück. Kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken und das „Hinterland“ abzuhaken, sondern viel mehr Anlass, die Geschehnisse mit einem nüchternen Blick Revue passieren zulassen und zu schauen, was gut und was schlecht lief; von einer Wiederholung ist auszugehen – in Zukunft sollten wir besser auf- und eingestellt sein.

Schon gegen 10:00 Uhr sammelten sich am Bahnhofsvorplatz in Wetzlar etwas 50 Nazis, die per Auto angereist waren und zumindest vor Ort geschlossen ankamen. Derweil wurde die Kundgebung des DGB, die am Herkulescenter stattfinden sollte, mit Hamburger-Gittern – ein erstes Anzeichen darauf, welche Seite die Staatsmacht an diesem Tage ganz besonders im Auge haben sollte - abgeschirmt. Wohlgemerkt, es waren zu dieser noch keine Gegendemonstrant_innen da und die Kundgebung hatte auch noch nicht begonnen. Gegen 11:00 kamen Züge mit zahlreichen Menschen aus dem linken Spektrum an. Gegen 11:30 wurde die Straße gegenüber dem Forum blockiert. Getragen wurde die Blockade, die zu diesem Zeitpunkt auf der Route der Nazis lag, zu großen Teilen aus dem Antifa-Spektrum. Konstatieren lässt sich schon zu diesem Zeitpunkt, eine relative Unentschlossenheit und Tendenz zur Konfusität; in Anbetracht der Tatsache das in diesem Moment relativ wenige Bullen da waren, hätte wesentlich mehr drin sein können. Die Anwesenheit der Polizei hat sich allerdings schnell geändert: Bereits nach wenigen Minuten wurde ein Wasserwerfer, Polizei und BFE-Einheiten, aufgefahren, die von Anfang an eine hohe Aggressivität an den Tag legten. Innerhalb der Blockade, zu der auch der DGB – samt Megaphon – dazu gestoßen war, kam es nach und nach zu einer Trennung von Leuten aus dem Antifa-Spektrum und eher bürgerlichen. Die dort gehalten Redebeiträgen von Seiten der Gewerkschaft variierten in ihrem Tenor: mal ging es gegen eine Spaltung, mal wurde sich gegen Gewaltbereitschaft ausgesprochen. Eindeutig ist an dieser Stelle anzumerken, dass von unserer Seite ein Megaphon gefehlt hat, auch wenn es einige gute Beiträge gab, wäre dies für die Organisierung und Koordinierung sehr wichtig gewesen. Gegen 12:20 rief der DGB zu einer Demo in Richtung Innen-/Oberstadt auf. So nach und nach folgten die meisten Leute aus dem Antifa-Spektrum, nur wenige versuchten die Blockade zu halten.

Der Plan der Gewerkschaft diese am Buderusplatz enden zu lassen war zunächst nicht ersichtlich. Aus diesem Grund wirkte die DGB-Demo auch so, als würde sie die Lage noch schlechter machen. Im Nachhinein betrachtet war es nur eine Ortsänderungen.
Wenn auch die Lage bereits nicht sonderlich rosig war – es hätte immer noch mehr drin sein können, zwei Faktoren standen dem im Wesentlichen im Weg:
Zum Ersten ist das Fehlen eines Infotelefons ein riesen Nachteil gewesen. Wir wussten aufgrund von Melder_innen-Strukturen, bestens wo die Nazis grade waren und welche Lücken es im Netz der Polizei gab, was zu tun sinnvoll gewesen wäre etc. Dies konnte aber nicht im nötigen Maße kommuniziert werden.
Zum Zweiten war es extrem schwierig auf organisierte Gruppen zu treffen, die in der Lage waren, selbständig zu agieren. Es liefen zwar zahlreich Gruppen in „schwarz“ und einem scheinbaren „autonomen“ auftreten umher – allerdings konnte sich davon nicht auf ein organisiertes handeln schließen lassen. Klar, ein Infotelefon hätte es leichter gemacht, aber viele Leute konnten mit Hinweisen überhaupt nicht umgehen, diese beispielsweise ihrerseits weiter tragen oder brauchten schlicht viel zu lange bis es zu einem Handeln kam.
Antifaschistischer Widerstand lebt grade davon, dass Menschen entschlossen, reflektiert und eigenständig aktiv sind.

Zwischenzeitlich konnten die Nazis auf einer vollkommen veränderten und verkürzten Route loslaufen. Einzelne Gruppen, die außerhalb der Demo/Blockade umher liefen, schafften es nicht selten, nah an die Demo der Nazis dran zu kommen. Das für ein ran-kommen die große Blockade/Demo nicht das richtige war ist klar. Mit der Zeit kamen auch mehr und mehr Leute rund um die Bullen in Richtung Nazis. Die vorher omnipräsente Anwesenheit der Polizei war plötzlich nicht mehr so zu bestätigen. Immer wieder kamen Antifaschist_innen nahe an die Route der Nazis – aber immer wieder waren es zu wenige.
Das entscheidende ist : Bei ein höheren Eigenverantwortung und einer besseren Verteilung des durchaus vorhandenen Wissens durch gute Kommunikationskanäle, hätte das anders aussehen können. Letztlich konnte eine kleine Blockade es schaffen, dass die Nazis umdrehen und zum Bahnhof zurückmarschieren mussten.

Die Nazis selbst waren ein schauderhafter Anblick: viele Old-School Nazis, viele eindeutige Neonazi T-Shirts, viel Hooligan Style und ein paar billig gestylte „Autonome Nationalisten“, Auch die Masse von 350 Nazis, von den einige aus dem Lahn-Dill-Kreis kamen, viele aus dem Raum Frankenberg/ Aschaffenburg und Nazis aus der Schweiz (diese „beschäftigen“ sich ebenfalls mit dem Thema Kinderschänder). Auf der Demo wurden Hitlergrüße gezeigt, Sascha Röder forderte Daniel Cohn-Bendit an die Wand zu stellen. Der Aspekt das Nicole Becker die Demo organisiert hat, ist von Bedeutung, das hat die Mobilisierung der Nazis gezeigt. Ihre Rolle in der Nazi-Szene sollte zwar nicht überschätzt werden, eine nähere Bestimmung steht gleichwohl noch aus.

Fazit:
Wir hatten mit einer anderen Situation in Wetzlar gerechnet, denn wir haben keinen so großen „Hinterland“-Faktor erwartet. Das heißt ganz klar, dass wir uns sowohl bei der Anzahl der Nazis verkalkuliert haben, als auch mit einem breiteren bürgerlichen Protest gerechnet haben. Beides hätte eine ganz andere Aktionsebene geschaffen.

Wir hatten in Nebenschauplätzen und der Organisation viele Kräfte gebunden und es eindeutig verschlafen ein Infotelefon einzurichten.
Positiv zu vermerken ist aber ganz klar, die im Vorfeld gelaufene Mobilisierung und die vorhandenen Orga-Strukturen an dem Tag.
Wir waren überrascht über das Unkoordinierte und planlose Auftreten von vielen Leuten aus dem antifaschistischen Spektrum (siehe oben).

Will Antifaschismus mehr als ein leere Worthülse sein und in die gesellschaftlichen Verhältnisse und Widersprüchlichkeiten eingreifen, sollte er ernst zu nehmend agieren und sich nicht hinter scheinbar radikalem Gestus und Auftreten verstecken – Gegen Nazis vorgehen, reaktionäre Diskurse in der Gesellschaft aufdecken und zurückweisen!

Antifa R4 / November 2008