31.05.06

Sicherheits-und Ordungswahn in Giessen

In der Nacht vom 29. auf 30.1.2006 hat die Polizei in Giessen einen 33. jährigen Algerier in den Tod gejagt. Auf der Flucht vor der Polizei wurde er von einem Zug erfasst und getötet. Dass Auto des Mannes war nicht zugelassen und er wollte sich offensichtlich nicht von der Polizei kontrollieren lassen, vielmehr lässt sich über den Hergang nicht herausfinden. Alles was bekannt ist, sind die Aussagen von den beteiligten Polizeikräften. Die Giessener Zeitungen die davon berichteten, ließen die Redakteure zu Wort kommen, die schon seit jeher dem zunehmenden Sicherheitswahn die Hand halten und reaktionäre Politik vorantreiben. U.a. mit der Forderungen das Obdachlose die Bänke in öffentlichem Parks nicht nutzen dürften oder Hetze gegen linke/autonome Aktivitäten. Die Frage, ob die Polizei nicht vielleicht die Jagd hätte einstellen sollen, wenn eine lebensbedrohliche Situation entstehen kann oder, dass die Rücknahme der Gefahrenabwehrverordnung in Betracht der jüngsten Konsequenzen gefordert wird, ist von den VerterterInnen dieser reaktionären und selbstherrlichen Politik nicht zu erwarten.

Ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit verdeutlicht, wie sich Giessen zur Stadt der „Uniformenvielfalt“ entwickelt hat. Begonnen hat das ganze nach Bildung des neuen Giessener Magistrats durch die CDU/FDP/FWG-Koalition. Nach der Installierung von zahlreichen Überwachungskameras, war die Einführung der sog. „Gefahrenabwehrverordnung“ die erste Umsetzung des im Wahlkampf der CDU propagierten SOS-Programms. Diese beinhaltet so sinnvolle Verbote wie das Teppichausklopfen zur Strasse hin, legt Bußgelder wegen Verunreinigung des Bürgersteiges u.ä. fest, verbietet das öffentliche Trinken in Gruppen ab 3 Personen, sowie das Verteilen von Flugblättern und fördert die sozialrassistische Vertreibung von Obdachlosen, Alkohol- und Drogenkranken, sowie Bedürftiger aus der Innenstadt. Neben Betteln, dem öffentlichen Gruppentrinken (mit Ausnahme bei Stadtfesten natürlich) Wühlen in Mülleimern, ist auch das Schlafen im Freien verboten.
Vorangetrieben wird diese Vertreibungspolitik insbesondere von dem hessischen Innenminister Volker Bouffier, ein Giessener, der offensichtlich in seiner Heimatstadt ein Exempel statuieren will.
Der Kirchplatz hat mittlerweile die höchste Polizeidichte Mittelhessens, nahezu täglich werden dort und an anderen Orten in der Stadt, soziale Randgruppen kontrolliert und vertrieben. Unterstützt wird die Polizei hierbei von zahlreichen Ordnungs- und Sicherheitsdiensten, städtische und freiwillige.
Nahezu wöchentlich finden Schleierfahndungen in der Stadt und Anwendung des Rasterfahndungsprinzips statt. Die Praxis der Rasterfahndung wird dabei auch unumwunden von Polizeibeamten gegenüber den betroffenen Person zugegeben. Ins Fadenkreuz geraten dabei in erster Linie vermeintliche Linke, als potentielle DrogenkonsumentInnen als auch Menschen mit nicht-deutscher Herkunft oder vermeintlich ausländischem Aussehen. Die Kontrolle des Algeriers um jeden Preis, die letztlich zu dessen Tod führte, ist ebenso als Teil der diskriminierenden und rassistischen Verfolgungsmaßnahmen zu bewerten, wie die gezielten Kontrollen von vermeintlichen Ausländern am Giessener Bahnhof.
Die Schleierfahndung findet nicht nur auf hessischen Autobahnen und Landstrassen statt. Sogar tagsüber in der Innenstadt gerieten in den letzten Monaten Betroffene in die präventiven Maßnahmen der Strafverfolgungsbehören.
Der Vertreibung von sozialen Randgruppen und der Schikanierung alternativ aussehender oder lebender Menschen folgt die Kriminalisierung sozialer Bewegungen.
Ein Beispiel ist der skandalöse Prozess, der gegen Menschen aus der Projektwerkstatt geführt wird, welche eine der aktivsten Gruppen im Protest gegen die Gefahrenabwehrverordnung waren. Wie auch immer man zu den Strategien und Handlungen der „Gruppe“ steht, die Kriminalisierung macht deutlich: Wer sich zu laut und langfristig gegen diese Politik zur Wehr setzt, bekommt massive Schwierigkeiten.
Eine neue Errungenschaft Giessens, als auch anderer Städte ist die Einführung von sog. „Business Improvement Districts“ (BID), das Konzept soll Stadteile, die wirtschaftlich hinterherhinken auf Touren bringen. Dabei schließen sich Gewerbetreibende und Grundstückseigentümer zu einem Verein zusammen, zahlen in diesen Geld ein und kümmern sich in der Folge um die Aufwertung, Vermarktung und Säuberung des Stadtteils. Hierbei werden nicht die Interessen aller dort lebenden Menschen berücksichtigt, an den Beschlüssen haben nur die Ladeninhaber und Gründstückseigner mitzureden und davon nur die, die bezahlt haben. So hat Giessen nun in der architektonisch ansprechenden Innenstadt ein „Marktquartier“ was damit lockt dort „das besondere zu entdecken“.

Dass mit Einführung der BID´s das Aufräumen der Innenstädte weiter vorangetrieben wird liegt auf der Hand; neben ohnehin schon zahlreichen städtischen und polizeilichen Maßnahmen werden nun die Interessen der Gewerbetreibenden zusätzlich gebündelt. So ist ein Ziel der BID, die betreffenden Gegenden angenehmer, d.h. konsumfreundlicher zu gestalten, bspw. Graffitis und anderen Unrat zu entfernen. BID-Konzepte sind jedoch nur ein aktuelles Beispiel für Gestaltung öffentlichen Raums. Wie auch immer das Konzept heißt, öffentlicher Raum wird immer mehr zu einer Ressource, die auf ihre Verwertbarkeit geprüft, entsprechend genutzt und bei Bedarf faktisch privatisiert wird. Es zählen nicht die Interessen der Menschen die dort Leben und verkehren, sondern im Mittelpunkt stehen ökonomische Gesichtspunkte, die es mit aller aufgebotenen Sicherheit zu schützen gilt.
Die Auseinandersetzungen um Orte und Plätze in den Innenstädten spiegeln die gegenwärtigen Machtverhältnisse wider, aktuelle Stadtentwicklungen manifestieren die voranschreitende Kluft zwischen Arm und Reich und setzen diese mehr und mehr geografisch fest; unliebsame Gruppen und Personen werden auf Distanz gehalten und ausgegrenzt. In den Innenstädten sollen die Zustände entschärft werden, die gesellschaftliche Teilung nach sozialem Verhalten und finanziellen Möglichkeiten wird von Polizei und Ordnungsdiensten praktische umgesetzt, die Ärmeren und Unpassenden werden in Gegenden gedrängt die aus dem Blickfeld sind. Die Freizügigkeit ist längst kein Recht mehr auf das sich alle berufen können. Wer nicht der Rolle als einkaufende Person gerecht wird, wird schnell zum Opfer von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit. Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Gruppen wird so weitestgehend unterbunden, staatliche Integrationsmaßnahmen gehören der Vergangenheit an, in der Folge werden sich die Sozialen Konflikte verschärfen und gegenseitiges Unverständnis zwischen den verschiedenen Gruppen wachsen. Aus dieser Mischung entstehen wiederum Bedrohungsszenarien die massive Überwachung rechtfertigen. Oft stehen dabei Themen im Vordergrund, die im Grunde nicht von strafrechtlicher Relevanz sind, z.B.: die Unsauberkeit von Plätzen und Straßen, Alkohol trinken und Betteln.

Wie es in den Wald hinein gerufen wird so schallt es mehrfach hinaus.
Die Propaganda die um den Abbau des Sozialstaates und die ausufernde Überwachung gemacht wird, ist so umfassend wie erfolgreich. „Man muß die Ängste der Bürger ernst nehmen“, mit dieser Prämisse werden die Befindlichkeiten der BürgerInnen zur Begründung für politische und polizeiliche Handlungen, die längst nicht mehr dem Grundsatz des Unschuldsmomentes entsprechen, sondern viel mehr alle verdächtigt die ins jeweilige Raster passen. Der Staat, der seine ökonomische und sozialstaatliche Handlungsfähigkeit zunehmend reduziert, fördert im Gegenzug seine Überwachungsaufgaben. So wird im Sinne der ökonomischen Handlungsfähigkeit immer mehr das Funktionieren des Systems, des Aufrechterhaltens von Sicherheit und Ordnung, durch umfangreiche Repressions- und Überwachungsapparate gewährleistet. Es wird versucht zusammenzuhalten, was im Grunde durch das grundlegende Prinzip der Gesellschaft, das kapitalistische, zerstört wird.
Die Akzeptanz die der Inneren Aufrüstung entgegenschlägt ist groß, der Widerstand marginal. Zum einen entwächst die breite Zustimmung gegenüber der Inneren Aufrüstung und dem Sozialabbau der Propaganda mit der auf den Weg geschickt wird. Doch darin allein die Ursache für breite Zustimmung zu sehen wäre vereinfacht.
Gerade Phasen in denen die Kluft zwischen Arm und Reich wieder wächst, bekommen nicht gerade solidarische und/revolutionäre Positionen Zulauf, vielmehr Entstehen panische Versuche auf den Zug nach Oben aufzuspringen, und dabei gilt es Leistung zu zeigen, nach unten treten und auszugrenzen; der Überwachungsapparat ist mit seine repressiven Folgen die logische Antwort. Sozialer Abstieg ist für viele eine reale Gefahr, der Sozialneid wächst wie die klammheimliche bis offene Freude über die Säuberung der Innenstädte. Denn es wird nicht nur der Schmutz hinaus getragen, sondern auch der personifizierte soziale Abstieg, das potentiell eigene Schicksal wird aus dem Blickfeld gekehrt. Wasser auf den Mühlen der Konkurrenzgesellschaft. Staatliche Maßnahmen orientieren sich weniger an den Bedürfnissen der Menschen, als an den Anforderungen der Repressionsapparate. Der Sicherheitswahn steigert sich von selbst immer weiter, der Erfolg kommt von der breiten Akzeptanz.

Der jüngste Todesfall in Giessen zeigt es mal wieder mit aller Deutlichkeit:
Das Maß ist längst voll. Die Linke kann hier nicht mit Mitleid gegenüber Betroffenen dienen, das kann getrost den bürgerlich linken Gutmenschen überlassen werden, die damit im Endeffekt die herrschenden Zustände bestätigen und stärken. Genauso dürfen die Reaktionen nicht in einer abstrakt-theoretischen, mithin universitären Ebene bleiben, sie müssen dort stattfinden wo sich die geschichtliche Gegenwart befindet: In den derzeitigen Politik- und Herrschaftsstrukturen. Dabei ist das Beharren auf bürgerlichen Grundrechten lediglich als ein Mittel dafür zu sehen, dass wir weiter in der Lage sind Widerstand zu leisten und nicht die Verwirklichung einer emanzipatorischen Perspektive. Alles andere wäre ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen, mitunter also in das eigene. In einer Gesellschaft wo „die Krankheit zum Symptom der Genesung wird“ kann die Antwort nur ein Angriff auf die Überwachungsgesellschaft und all ihre Auswüchse und Multiplikatoren sein. Das Ziel kann nur eine emanzipatorische, herrschaftsfreie Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Überwachungsgesellschaft sein.
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